


Der erste diesjährige Stammtisch des Freundeskreises am 14.05.2024 führte 20 Teilnehmer auf Stuttgarts Halbhöhenlage zusammen. Zunächst stärkten sie sich bei bestem Sommerwetter mit griechischen Speisen im Garten des Restaurants Ilysia. Dann ging es zur Villa Reitzenstein, dem hochherrschaftlichen Anwesen, das das baden-württembergische Staatsministerium, den Amtssitz der Ministerpräsidenten, beherbergt. Die Führung unter Leitung von Prof. Dr. Joachim Brüser vom Protokoll des Staatsministeriums wurde zu einem außergewöhnlichen Erlebnis. Sein kenntnisreicher Vortrag war informativ kurzweilig, detailliert und spannend bis zuletzt.
Brüser hat sich als Historiker mit der Geschichte der Villa Reitzenstein sowie auch mit deren Erbauerin Baronin Helene von Reitzenstein, geb. Hallberger, und mit den späteren Nutzern der weithin sichtbaren repräsentativen schlossähnlichen Anlage besonders intensiv befasst (u. a. Die Villa Reitzenstein in Stuttgart, Thalia-Verlag). In einer großartigen Vorstellung ließ er Helene Hallberger, die sehr wohlhabende Erbin der Hallbergerschen Verlagshandlung (später Deutsche Verlags-Anstalt) und wichtige Persönlichkeit des Stadt- und Hoflebens in Stuttgart aufleben. 1910 bis 1913 ließ sie die Villa in Anlehnung an den französischen Barockstil als zweigeschossige Dreiflügelanlage aus Maulbronner Sandstein errichten und mit einem Mansarddach versehen. Das Innere wurde mit hohem Aufwand ausgestaltet. Im 1. Weltkrieg wurde die Villa von der Stadt beansprucht. Sie diente als Reservelazarett. Helene von Reitzenstein verlor ihr Interesse. Sie verkaufte 1922 das Gebäude mit den umgebenden Parkanlagen an den freien Volksstaat Württemberg. Seither wird es fast durchgehend von den württembergischen Staatspräsidenten (Bazille, Bolz), dem Reichsstatthalter (Murr), dem US-Militärgouverneur (Clay) sowie den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg (Maier, Müller, Kiesinger, Filbinger, Späth, Teufel, Oettinger, Mappus, Kretschmann) genutzt. Von Klaus Schreiber, Schwäbischer Heimatbund, ist sie als „die schönste deutsche Staatskanzlei“ zitiert.
Die handwerklich hochwertige und prachtvolle Gestaltung des Inneren der Villa beeindruckt besonders. Herausragend wegen ihrer Größe, aufwändigen Ausgestaltung und erlesenen Ausstattung sind neben dem Foyer und dem Treppenaufgang zum Obergeschoss der Runde Saal (einst Billardsaal, nun Kabinettssaal mit riesigem ovalem Konferenztisch für 28 Personen), der blaue Salon (einst Musikzimmer), der Gobelinsaal (einst Speisesaal) sowie das Eckzimmer (einst Raucherzimmer, sehr aufwändig vertäfelt mit kostbaren Intarsien aus Holz und Perlmutt). Die in Mahagoni gestaltete zweigeschossige zum Rosarium hin durch große Fenster geöffnete Bibliothek bezeichnet Brüser (Schwäbische Heimat 2021/2 S. 38) als den nach Ausmaß und Lage innerhalb des Gebäudes für die Bauherrin Helene von Reitzen-stein wichtigsten Raum. Er sieht hier speziell den Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Verlegerfamilie Hallberger.
Die Baulichkeiten im zweieinhalb Hektar großen Park der Villa Reitzenstein wurden im Lauf der Zeit wiederholt verändert und ergänzt. Brüser erkennt in seinem bereits erwähnten Beitrag (aaO, S. 43) inhaltliche Botschaften der mittlerweile 4 baugeschichtlichen Phasen der Villa: Den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg von Helene von Reitzenstein, den stilistischen Brutalismus von Reichsstatthalter Murr, die Modernität und Fortschrittlichkeit von Filbinger im Anbau von 1974 sowie die ökologischen und energetisch nachhaltigen Vorgaben für den Bau des Eugen-Bolz-Hauses (2014-2016) durch Ministerpräsident Kretschmann.
Der herrliche Sonnentag ließ den Besuch des Rosengartens und der ausgedehnten Parkanlage zu einem abschließenden Höhepunkt unseres Besuchs und der Führung werden. Die meisten Teilnehmer setzten sich nach hochinteressanten eineinhalb Stunden zu einem erfrischenden Eiskaffee im nahegelegenen Café Hummel am Bubenbad zusammen, um die vielfältigen Eindrücke zu besprechen und vor allem auch, um Manfred Schulz als dem Initiator und Organisator des Stammtisches herzlich zu danken.
09.06.2024/js
veröffentlicht am Donnerstag, 13. Juni 2024 um 09:47; erstellt von Morell, Sina
letzte Änderung: 14.06.24, 12:18